„Nur 20 Minuten von Nantes entfernt“ – so lautet ein Werbespruch aus der Gemeinde Clisson, die 30 Kilometer südöstlich von Nantes mitten im berühmten Weingebiet der Loire liegt. Der TGV macht es möglich. Clisson gilt auch als der Weinberg von Nantes. Aber das Städtchen hat viel mehr zu bieten als nur ein Schaufenster für die edlen Muskadet-Weine zu sein.
Am Bahnhof von Clisson empfängt mich Thierry Fort vom Tourismus-Office zu einem Bummel durch die Stadt.
Italienische Stadtarchitektur in Clisson
In den Vendée-Kriegen zwischen Republikanern und Royalisten Ende des 18. Jahrhunderts wurde Clisson durch Brände fast vollständig zerstört. Dann ergreifen Künstler aus Frankreich, die lange in Italien lebten und der bedeutende Bildhauer François-Frédéric Lemot die Initiative und beginnen den Wiederaufbau von Clisson nach italienischem Vorbild.
Inspiriert wurden sie von der malerischen Landschaft des Sèvre-Tales, die sie an ihren Italienaufenthalt erinnerte. Schon bei einem ersten kurzen Spaziergang verzaubert die einzigartige historische Stadt mit ihren mittelalterlichen und toskanischen Einflüssen. Überall entdeckt der Besucher die italienische Architektur der Villen aus Schiefer und Backstein, mit Terracotta-Dächern und Rundbogen-Öffnungen, mit Arkaden und antike Statuen.
Hier ordnet sich auch die später gebaute Kirche Notre Dame im italienischen Stil ein mit ihrer imposanten Fassadengestaltung. Im 19. Jahrhundert gleicht die Stadt mehr und mehr einem italienischen Landschaftsgemälde und davon ist bis heute vieles erhalten geblieben.
Wie ein italienisches Landschaftsgemälde
Am Rande des Städtchens entwickelte der Bildhauer Lemot Anfang des 19. Jahrhunderts im einstigen Jagdgebiet der Herzöge einen außergewöhnlichen, 13 Hektar großen Park. Er trägt den Namen Domaine de la Garenne Lemot. An den Ufern der Sèvre Nantaise, eines Nebenflusses der Loire, entstand eine Anlage, die italienischen Landschaften ähnelt. „Frédéric Lemot stellt sie so zusammen, dass sich für Zeichner und Landschaftsmaler pittoreske Perspektiven ergeben“, beschreibt Thierry Fort die Anlage des Gartens. „So sind in der Parkanlage überall Statuen, Grotten, Säulen und Gräber entstanden“. Natürlich ist auch der aufmerksame Spaziergänger beeindruckt von der Komposition des Parks.
Da ist zunächst das Gärtnerhaus, das erste auf der Anlage errichtete Gebäude, das sich an die ländliche Bauweise in Umbrien und der Toskana anlehnt. Der Taubenturm, das Ziegeldekor und die Spitzbogenfenster sowie die mit roten Ziegeln gedeckten Flachdächer verleihen dem Haus einen mediterranen Stil.
Antikes Ambiente im Park
Die verschlungenen Wege führen immer wieder zu neuen Sichtachsen auf interessante Motive. Da sind eine Grotte und eine Ädikula mit Nische, ein Bauwerk, in dem in der römischen Antike eine Statue untergebracht wurde. Hier befindet sich ein antikes Grabmal auf einem Felsen, auf dem dereinst die Inschrift stand „Et in Arcadia Ego“ (Auch ich bin in Arkadien).
Auf einer Anhöhe thront der Vesta-Tempel, umgeben von 18 toskanischen Säulen. Außerdem begegnet der Besucher vier Marmorstatuen aus der Römerzeit, die im Park aufgestellt sind, um ein antikes Ambiente zu erzeugen.
Da erhebt sich ein griechischer Tempel aus dem Grün, dort eine strahlend weiße Marmorskulptur. Laubengänge, mit Wein berankt, bieten Schutz vor der Sonne.
Ein Highlight ist zweifellos die Villa Lemot im Landhaus Stil mit ihren beidseitig angelegten Terrassen. Von den schattigen Terrassen besteht ein wunderbarer Blick auf die Stadt, die Burgruine und den Fluss Sévre.
Der Balkon über der Wein-Landschaft
„Auf dem Weg in die Weinfelder darf der Reisende nicht den Besuch von ‚Le Porte-Vue‘ versäumen“, empfiehlt dringend Nathalie Petijean. Sie ist die verantwortliche Kommunikationschefin der Region und fährt mich mit dem Auto zu dem kleinen Dörfchen Château-Thébaud.
Hier hat Emmanuel Ritz über der 40 Meter tiefen Schlucht des Flusses Maine einen besonders spektakulären Aussichtspunkt geschaffen. Über einen Granitfelsen hinaus ragt eine 30 Meter lange Fußgängerbrücke. Von diesem Balkon über der Weinlandschaft hat der Reisende eine phänomenale Aussicht auf die Kulturlandschaft der Loire und auf das Freizeitzentrum Pont Caffino in der Schlucht, die die Einheimischen mit etwas Augenzwinkern auch ihren „Grand Canyon“ nennen.
Begibt man sich unter den Balkon und schaut vom Freizeitzentrum hoch auf die Brücke, so hat man einen ebenso beeindruckenden Blick. Der Fluss sorgt hier außerdem nicht nur für nötiges Nass der Weinfelder, sondern bietet allen Wassersportlern viel Platz, besonders für Kanusport jeglicher Art.
Besuch der Winzerdynastie Chéreau Carré
Nathalie besucht mit mir das traditionelle Weingut Chéreau Carré. Es liegt im Dorf Saint-Fiacre-sur-Maine. „Hier gibt es nicht nur hoch dekorierte Weißweine, sondern einen legendären historischen Weinkeller“, macht Nathalie den Besuch schmackhaft. Und der Muscadet ist wahres Vorzeigeprodukt der Loire Weinregion. Er wurde im 17. Jahrhundert in den Weinbergen von Nantes zum ersten Mal angebaut.
Umringt von scheinbar endlosen Weinfeldern liegt das Chateau de Chasseloir auf den Hügeln oberhalb des Flusses La Maine. Hier werden wir von dem derzeitigen Oberhaupt der Winzerfamilie, Bernard Chéreau begrüßt. Der Name Chéreau Carré geht auf seine Eltern zurück, Bernard Chéreau Senior und seine Frau Edmonde Carré. Die beiden heirateten und führten ihre Weingüter zusammen und gegenwärtig besitzt und bewirtschaftet die Familie insgesamt vier Weingüter. Bernards Tochter Louise tritt heute schon in die Fußstapfen ihres Vaters. Die Winzerfamilie hat über die Jahrzehnte den Ruf des hauseigenen Muscadets wesentlich bestimmt.
Dann erhalte ich eine kleine Einführung zum Muscadet, „das Flaggschiff unseres Weingutes“, wie Bernard Chéreau betont.
Muscadet ist das Flaggschiff des Weingutes
Diese Weingegend ist stark durch ihre Schieferböden geprägt, welche dem Muscadet Sèvre et Maine seinen Charakter verleiht. Die Basis für den Wein der Region bildet die Rebsorte Melon de Bourgogne, welche von burgundischen Mönchen im 17. Jahrhundert in die Gegend um Nantes gelangte. Die Trauben für den sortenreinen Melon de Bourgogne werden bei optimaler Reife gelesen, übrigens zum großen Teil noch per Hand und nicht maschinell, um eine hohe Qualität des Weines zu erzielen.
Dann werden sie umgehend in die Kellerei gebracht, hier möglichst sanft in pneumatischen Pressen gepresst und die Moste kühl gestellt. Damit sollen sie sich durch Kaltsedimentation mehr oder weniger von selbst klären, bevor man sie traditionell vergären lässt. Die Weine verbleiben nach abgeschlossener Gärzeit auf den Feinhefen, wobei ihnen das regelmäßige Aufrühren des Feinhefelagers, noch mehr aromatische Tiefe, Fülle und Balance verleiht.
Mit schöner Fülle im Gaumen
Die Fachleute verleihen dem Spitzenweißwein regelmäßig hochrangige Preise. Das Weingut Chéreau-Carré aus Saint-Fiacre-sur-Maine, das bereits im Jahr 2020 als Sieger hervorging, gewann in diesem Jahr den 30. Grand Prix Clémence-Lefeuvre, einen Muskadettenwettbewerb.
Und die Weinhändler in Deutschland schwelgen beim Anpreisen der Qualität des Muscadets mit seiner „brillanten hellgelben Farbe“, „dem frischen duftigen Bouquet von Zitrusfrüchten und Obstblüten“ und „mit schöner Fülle am Gaumen, elegant, balanciert und harmonisch im Finale“. Eine Frankreich-Kennerin urteilt sogar, wer noch keinen Muscadet zu einem Pont-L’évêque fermier (dem ältesten französischen Käse aus der Normandie) probiert hat, hat noch viel vom Leben zu lernen. Als Laie kann ich den Wein nur mit „einfach wunderbar“ beschreiben.
Blicke aus und auf die Historie
Der Höhepunkt dieser Weinprobe ist für mich der Besuch des historischen Weinkellers mit seinen aus Holz geschnitzten bunten Gesichtern und Figuren. Da werden Tugenden und Untugenden dargestellt, wie die Gier (L’avarice), die Faulheit (La Paresse), die Keuschheit (La Chastete) und die Wollust (La Luxure), außerdem sind Figuren von François Rabelais dargestellt, wie die Riesen Gargantua und Gargamelle.
Der mit geschnitzten Figuren reich geschmückte Weinkeller
Die derb satirischen Romane von Rabelais aus dem Beginn des 16. Jahrhundert mit Riesen als Protagonisten sind in ganz Frankreich bekannt. In ihnen karikiert Rabelais die Zustände seiner Zeit und übt scharfe Religions- und Gesellschaftskritik. Seine Bücher wurden mehrfach verboten und fanden dennoch als Raubkopien schnelle Verbreitung. Welch ein Blick aus der Geschichte auf uns und unsere Eigenarten, und welch ein Blick von uns auf unsere Geschichte! Ein Glas Muscadet ist dafür ein guter Begleiter.