„Kasan ist die dritte Hauptstadt von Russland“, erklärt mit Selbstbewusstsein in der Stimme Ramil Miftakhov. Er ist Chef der 1998 gegründeten Tourismus-Agentur „Persona Grata“ und muss es wissen. Denn der Moslem Ramil ist gut vernetzt mit dem Tourismus-Ministerium von Tatarstan und betreibt viele Projekte in der Reisewirtschaft. Richtig in Schwung kam der Tourismus mit der 1000-Jahr-Feier der Stadt im Jahr 2005.
Im Umfeld des Jubiläums gab es viele für den Touristen freundliche große Investitionen wie einige Hotelneubauten und die Eröffnung der Metro, derzeit mit elf Stationen. Das war auch der Beginn einer Erfolgsstory für den ansteigenden Tourismus, obwohl das Land der Tataren nach wie vor in Europa noch als kleiner Geheim-Tipp für Urlauber gehandelt wird.
Immerhin haben, so Ramil, auf dem Höhepunkt im Jahr 2019 bereits 3,6 Millionen Touristen Tatarstan besucht. Selbst im ersten Pandemie-Jahr 2020 mit eingeschränkten Reisen kamen noch 1,9 Millionen Besucher. Das bedeutet, dass nach Moskau und Petersburg, den ungekrönten Königen des russischen Tourismus, Kasan durchaus einen 3. Platz in Russland erobern kann.
Die Kutsche Katharina II.
Für die meisten Besucher von Kasan führt einer der ersten Wege durch die Baumanstraße, eine knapp zwei Kilometer lange Fußgängerzone in der City der 1,3 Millionen Stadt. Namensgeber des Fußgänger-Boulevards ist Nikolai Bauman, Veterinärmediziner und Revolutionär aus deutsch-russischer Familie, der hier im Jahr 1873 geboren wurde.
Mit ihren aneinander gereihten Geschäften und Sehenswürdigkeiten, Cafes und Restaurants wird sie in Anlehnung an Moskau auch Arbat genannt. Ungewöhnliche Skulpturen säumen den Weg.
Ein Springbrunnen mit Tauben, zu den kunstfertig erschaffenen gesellen sich oft lebendige dazu, eine arabische Straßenuhr und der Null-Meridian von Tatarstan bis New York (до Нью-Йорка) sind es 8.033 Kilometer. Einzigartiges Kolorit zeigt die Skulptur einer Kutsche, die Nachbildung des Gefährts, mit der im Jahr 1767 die Zarin Katharina II. in die Stadt Kasan eingefahren ist.
Nach der Legende verschenkte sie damals die Kutsche an den Erzbischof, das Original steht im Nationalmuseum. Die Kopie auf der Baumanstraße nehmen heute darauf herum kletternde Kinder in Besitz.Beim Spaziergang im Juni des Jahres 2021 erlebt der Besucher eine sehr entspannte Atmosphäre ohne Angst- und Hysterie einer überspitzten Corona-Pandemie-Politik wie daheim in Deutschland. Die Flaniermeile endet am Fuß einer kleinen Anhöhe, auf der der Kasaner Kreml errichtet wurde. Und da geht es mit spannender Geschichte erst richtig los.
Die Kronjuwelen von Kasan (Tatarstan)
Ein Markenzeichen für Tatarstan ist die Toleranz, die sich besonders im friedlichen Zusammenleben der Religionen in diesem islamisch geprägten Land zeigt. Ein großes Plus für den Tourismus“, ist sich Ramil Miftakhov sicher. Ein anschauliches unübersehbares Beispiel dafür ist der Kasaner Kreml, der im Jahr 2000 in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde.
Der Kreml (eigentlich Festung) ist das Wahrzeichen von Kasan und wurde vom russischen Eroberer Iwan IV. (Iwan der Schreckliche) nach Einnahme der Stadt 1552 auf den Ruinen des Khan-Palastes als steinerne Befestigungsanlage errichtet. Heute sieht der überraschte Besucher innerhalb der Kasaner Kremlmauern auf engstem Raum eine Mischung aus tatarischer, russischer und europäischer Architektur. Da steht die prächtige neugebaute Kul-Scharif-Moschee gleich neben der russisch-orthodoxen Maria-Verkündigungs-Kathedrale.
Die Form der Moschee erinnert an eine Tulpe. Das Tulpenmotiv spielt in der moslemischen und tatarischen Kultur eine besondere Rolle und ist oft ein Dekorationselement an Häusern oder Verzierung auf Kleidern und Lederstiefeln. Die Tulpe steht im islamischen Glauben für Wachstum, Gedeihen und Wiederaufblühen.
Die in Kasan geborene Reiseführerin Jewgenia macht auf einen nicht so offensichtlichen Fakt des gleichberechtigten Miteinanders der Religionen aufmerksam, eigentlich einen banalen bürokratischen Akt, jedoch mit tiefer politischer Symbolik: In ein und derselben Gesetzesvorlage wird im Jahr 1995 sowohl der Neubau der Moschee als auch die Restaurierung der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale geregelt. Beide Kronjuwelen des Kreml werden 2005 im Milleniums-Jahr der Stadt Kasan eingeweiht.
Übrigens ist Reiseveranstalter Ramil Miftakhov selbst bestes Beispiel des friedlichen religiösen Zusammenlebens – und das liegt ihm auch besonders am Herzen: „Meine Eltern und ich selbst sind Moslems, meine russische Frau ist Angehörige der orthodoxen Kirche und meine drei Kinder besuchen eine jüdische Schule.“ Alltag in Kasan.
Legende um tatarische Fürstin
Der Kasaner Kreml wird auch durch den Sjujumbike-Turm aus rotem Ziegelstein geprägt, mit 58 Metern das höchste Gebäude des Kreml. Dazu erzählt Jewgenia eine bis heute kolportierte Geschichte. Nach der Eroberung von Kasan plante der Feldherr und Zar Iwan IV. auch die Kasaner Fürstin Sjujumbike zu erobern und sogar zu heiraten. Nun wollte die bedrängte Fürstin den Zaren, der seinem Beinamen Grosny (übersetzt schrecklich oder furchteinflößend) alle Ehre machte, nicht vor den Kopf stoßen.
So stellte sie ihm als Bedingung für ihre Heirat die Aufgabe, in nur sieben Tagen einen hohen Turm zu errichten, in der festen Überzeugung, dass er scheitern wird. Als der Turm tatsächlich fristgemäß fertig war, stieg die Fürstin bis zur Spitze des Turms und stürzte sich in die Tiefe. Diese Geschichte hat alle Elemente einer überzeugenden Legende: Den schrecklichen Zaren, die ehrbare tapfere Fürstin und den hohen Turm. Es hat sich nur ein kleiner Fehler eingeschlichen.
Iwan der Schreckliche eroberte Kasan im 16. Jahrhundert, der Sjujumbike Turm wurde aber erst in der zweiten Hälfte des 17. und dem frühen 18. Jahrhundert errichtet. Nur die Höhe mit 58 Meter entsprach der Wahrheit.
Angesichts dieser Story könnte sogar der viele Jahre erfolgreiche Spiegel-Relotius blass vor Neid werden. Denn immer noch wird die Turm-Legende von nicht wenigen geglaubt und selbst bei deutschen Zeitungsjournalisten (Stuttgarter Nachrichten 9.6. 2018) stürzt sich die Fürstin Sjujumbike von ganz oben in den Tod mit der Einschränkung, dass Historiker an dieser Geschichte zwar viel auszusetzen hätten, aber bis heute stehe der Turm dennoch für den Freiheitswillen der Tataren.
Wenn es den Propaganda-Schablonen nutzt. Historisch wahr ist allerdings, dass die besagte Fürstin in das damalige russische Establishment in Moskau einheiraten musste und ihr Sohn ganz früh stirbt, vermutlich an einer Vergiftung – Machtkampf im Mittelalter. Wirklich wahr ist aber, dass das Bauwerk als der schiefe Turm von Kasan bezeichnet wird. Ähnlich wie bei seinem Namensvetter in Pisa hat sich durch weitere Bauten auf dem Kremlgelände der Turm über die Jahrzehnte gesenkt.
An diesem sommerlichen Abend ein Spaziergang entlang der Kreml-Mauer. Auf dem Rasen der leicht abfallenden Hänge der Festung lagern Pärchen und Familien mit Kindern, um den Sonnenuntergang zu verfolgen. Ein idyllisches Bild. Von dem Hügel aus ist wunderbar die Gestaltung der modernen Ampelanlagen unten an den Straßenkreuzungen zu beobachten.
In der Grün- bzw. Rotphase leuchtet nicht nur die kleine Ampel, sondern in ganzer Länge der gesamte Ampelmast an und über der Straße. Dadurch sind Rot und Grün der Ampel um ein Vielfaches besser zu erkennen. Was den Nomaden- und Reitervölkern des fernen Ostens alles so einfällt.
Bolgar Pilgerstätte der Tataren
Eine beliebte und stark nachgefragte Exkursion führt in einer zweistündigen Fahrt per Auto oder Bus ganz tief in die Geschichte dieses Landes nach Bolgar. Hier befinden sich die Ruinen der Hauptstadt der Wolga-Bulgaren vom 8. bis 15. Jahrhundert.
Bolgar wurde nach der Eroberung durch mongolische Reitervölker auch Zentrum der Goldenen Horde. Heute ist Bolgar eine beliebte Pilgerstätte der Tataren und von Muslimen aus ganz Russland. Touristischer Anziehungspunkt sind sowohl der historische archäologische Komplex als auch das sehr sehenswerte Museum der Bulgarischen Zivilisation sowie die Bauten neueren Datums, wie der Koran-Schrein und die Weiße Moschee.
Meine fachkundige Begleitung ist die Tatarin Eleonore. Sie erzählt über das Fest „Hochzeit des Pfluges“, das in Tatarstan als ein Feiertag begangen wird. Eleonore hat auf dem Dorf ihre Kindheit verbracht und ist anfangs auch auf eine Dorfschule gegangen. Sie kann sich noch gut an dieses Fest erinnern, das von der ganzen Dorfbevölkerung gefeiert wurde.
Ein Pferdewagen rollte durch das Dorf und sammelte kleine Geschenke ein. Auf dem hergerichteten Dorfplatz gab es dann viel Spaß bei Sackhüpfen, Eierlaufen und Mastklettern. Und schließlich maßen die Männer ihre Kräfte in einem Gürtel-Ringkampf (tatarisch: köpam kypjam). Der Sieger gewann ein Schaf, das er stolz nach Hause trug.
Fernstraße und Autobahn sind in sehr guten Zustand, trotz harter und langer Winter. Das signalisiert damit auch den guten Zustand der Wirtschaft des Landes. Im Gegensatz zu ihren Nachbarn, den Tschuwaschen und Baschkiren, sind die Reichtümer der Öl- und Gasvorkommen, so meint Eleonore, in den letzten Jahrzehnten weder hauptsächlich nach Moskau noch ins Ausland abgeflossen, sondern in die Infrastruktur investiert worden.
In der Stadt Kasan haben sich wichtige Industrie- und Forschungsbetriebe der Luftfahrt angesiedelt, so die Produktion von Hubschraubern, von Flugzeugen und speziell von Flugzeugtriebwerken. Der legendäre Über-Vater der russischen Luft- und Raumfahrt, Raketenkonstrukteur Koroljow war auch zu seiner Zeit mehrere Jahre hier tätig.
Klosterstadt wieder aufgebaut
Eine ebenfalls spannende Fahrt in die Geschichte verspricht die Tour zur Halbinsel Swijaschsk. Hier wurde auf Befehl von Zar Iwan IV. innerhalb weniger Wochen eine hölzerne Festung errichtet aus Teilen, die in Uglitsch vorgefertigt und auf der Wolga auf Flössen hierher transportiert wurden. Das gab Iwan IV. dann den entscheidenden Vorteil für die erfolgreiche Eroberung von Kasan und des gesamten Tataren-Reiches, da er keine Nachschub- und Versorgungsprobleme während der langen Wintermonate mehr befürchten musste.
Die Festung wurde später dann in eine Klosteranlage umgewandelt und war jahrhundertelang ein Zentrum des russisch-orthodoxen Glaubens. Nach der Oktoberrevolution wurden die Kirchen zerstört und die Klöster geschlossen und nach dem Zerfall der Sowjetunion unternahm Tatarstan vieles, um diese Klosterstadt wieder erstehen zu lassen. Heute befinden sich in Swijaschsk ein halbes Dutzend Kirchen, zwei Klöster und eine Reihe von Denkmälern. Sie zeigen den Weg von der Festung zum Kloster, zu dessen Zerstörung und schließlich ab 1995 den Wiederaufbau.
Ein passender Abschluss der Reise in die Vergangenheit ist der Besuch des Tempels der Religionen in der Gegenwart. In einem Vorort von Kasan steht ein Gebäudekomplex, der Bestandteile religiöser Architektur von insgesamt 16 Glaubensrichtungen vereint, vom Islam über das orthodoxe Christentum bis zum Buddhismus. Initiiert vor 30 Jahren durch den einheimischen universellen Künstler Eldar Chanow wuchs dieses Projekt auch dank vieler Spenden zu einem multikulturellen Haus mit Ateliers und Werkstätten, an dem immer noch gebaut wird.
Entspannt auf der Promenad
Zurück in Kasan. Ein schöner Spaziergang mit viel Aussicht führt entlang der weißen Kreml Mauer zur Promenade am Fluss Kasanka mit mehreren Wegen für Spaziergänger, Fahrradfahrer und einer Vielzahl von Elektro-Rollern. Zwischendurch finden sich Cafes, für Kinder eine Ecke zum Malen, eine Leseecke mit kleiner Bibliothek, Spielplätze. Über der Promenade ist ein Lichterhimmel installiert, der am Abend beleuchtet wird. Es bietet sich ein herrlicher Blick auf den modernen Teil von Kasan auf der anderen Seite des Flusses.
Hier auf der Promenade mit den vielen entspannten Menschen, auf Rollern, Rädern oder zu Fuß, da habe ich den Dauerausnahmezustand einer Gesellschaft im Würgegriff von panischen Pandemikern in Deutschland hinter mich gelassen. Auch hier ist man nicht leichtsinnig, auch hier weiß man um die Gefahren des Virus, auch hier gibt es zur Abwehr überall Möglichkeiten der Desinfektion in Restaurants, Bahnen, Hotels, Toiletten.
Manche Einwohner tragen Masken, andere nicht. Alle sind entspannt, niemand reagiert hektisch oder hysterisch. Man hat gelernt, mit dem Virus zu leben, eine neue Normalität hat Einzug gehalten – die Nomaden- und Reitervölker eben.
iPad ersetzt Speisekarte
Die Speisekarte auf dem iPadDie Tatarin Eleonore hat ein wunderbares Restaurant mit Tischen im Garten empfohlen, das den merkwürdigen Namen „Junggesellen-Hütte“ trägt. Hier feierte sie mit ihren Freundinnen den Junggesellinnen-Abschied. Als Speisekarte dient ein mehrsprachiges iPad, auf dem die Speisen ausgewählt und in einem Warenkorb gesammelt werden.
Dann klingelt der Gast nach der Bedienung, die die Bestellung in Sekunden überträgt. Im Restaurant wie auch in den Läden und Supermärkten bezahlen so gut wie alle Kunden per mobile Payment, es wird einfach das Handy neben das Kartenlesegerät gelegt. Bargeld und Kreditkarten sind out. Ach ja, die Nomaden- und Reitervölker … Das Essen war übrigens vorzüglich.
Just take five
Das Jazz-Restaurant Stari Royal (Das alte Klavier) hat einen gemütlichen Gastraum mit Bartheke in der Petersburgerstraße 50 gefunden. „Das Jazz-Restaurant haben wir vor 13 Jahren gegründet und sind nun seit drei Jahren an diesem Standort“, erzählt Barmann Iwan Gluschenko. „Jeden Tag wird bei uns Jazz-Musik gespielt, meist von Pianisten, die auch mal eine Sängerin mitbringen, manchmal tritt auch ein Trio auf“. Laut Iwan ist Stari Royal das einzige Jazz-Lokal in Kasan. An diesem Abend spielt am Piano Nail Taimass Kasanow. Er stammt aus Kasan und arbeitet an einem Musikinstitut, wie er erklärt.
Und dann erklingen in der Jazz-Version „Let it be“ und „Girl von Ipanema“ in Kasan. Nail beherrscht das Klavier, viele bekannte internationale Titel in Jazzversion sind zu hören. Kann man sich auch etwas wünschen, vielleicht den Oldie Take Five von Dave Brubeck? Kein Problem für den versierten Pianisten.
Won’t you stop and take
Dave Brubeck, Jazz-Legende
A little time out with me
Just take five
Stop your busy day
And take the time out
To see if I’m alive
Der vor neun Jahren verstorbene Dave Brubeck, Jazz-Legende wie auch Jazz-Diplomat, hätte seine Freude dran gehabt, seinen Titel Take Five, sein persönliches Markenzeichen, hier in Kasan zu hören.
Ziel: Deutsche Besucherzahl verdoppeln
Tourismusexperte Ramil Miftakhov listet das Länder-Ranking der internationalen Besuchergruppen auf. Nach dem unangefochtenen Platz 1 der Chinesen (die allerdings derzeit durch Corona Maßnahmen noch ausgebremst sind) folgen die Deutschen schon an 2. Stelle.
Ein großer Anteil wird von Teilnehmern der Schiffsrouten auf der Wolga und der Transsibirischen Eisenbahn (Transsib) bestritten. Ramil: „Unser Ziel sollte es sein, die Zahl von 40.000 deutschen Besuchern zu verdoppeln. Schließlich ist Kasan eine Stadt Europas, die mitten in Russland liegt, nur eine gute Flugstunde von Moskau entfernt.“
Die Bedingungen dafür sind nicht so schlecht. Die Zahl der Hotelplätze in Kasan von 12.000 ist eine gute Basis. Dazu kommen noch 2.000 nicht zertifizierte Plätze, die meisten davon in Hostels. Also auch an Rucksack-Touristen wird gedacht. Der gewiefte Tourismus-Manager hat sich für die Zukunft schon den Wortlaut einiger Werbesprüche durch Patente gesichert, an vorderster Stelle: Kasan, die 3. Hauptstadt von Russland.
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