Bei der Schiffstour von der Stadt der Künste Nantes bis zur französischen Atlantik-Küste zum Hafenstädtchen Saint-Nazaire ist schon der Weg das Ziel. Denn das Projekt Estuaire hat seit 2007 den Unterlauf der Loire in einen Kunstparcours verwandelt. Mehr als 60 Kilometer lang säumen hier derzeit 33 Werke von französischen und internationalen Künstlern den Mündungsstrom.
In bunter Reihe sind Groß-Installationen, Skulpturen und außergewöhnliche Architektur am Fluss, in Feldern und Wäldern platziert. Bildhauer, Architekten und Konzeptkünstler wollen die Wahrnehmung der Betrachter etwas aus den Angeln heben und selbstverständlich auch bestaunt werden. Seht her, wozu Kunst imstande ist. Das soll Mut und Selbstbewusstsein stärken, so die Kunstmanager, um durch diese heutigen schwierigen Zeiten zu kommen.
„Belvédère de l’Hermitage“ klammert am Felsen
Mit dem Schiff, das April bis Oktober täglich verkehrt, ist man mehr als zwei Stunden unterwegs. Der Mündungsarm der Loire ist nicht sehr breit und alle Passagiere halten Ausschau nach den Kunstwerken in den Landschaften. Eines der spektakulärsten Kunstwerke ist die „Belvédère de l’Hermitage“, der Aussichtspunkt Eremitage des japanischen Künstlers Tadashi Kawamata.
Wie auch andere seiner in Nantes gezeigten Arbeiten ist das Bauwerk vollständig aus Holz. Ein langer schmaler Steg führt zu einer freitragend über der Uferklippe hängenden Konstruktion, die sich an die Felsen klammert und in der Form an ein Schwalbennest erinnert. Die Fußgängerbrücke ist knapp drei Meter breit, 36 Meter lang und die letzten zehn Meter hängen in fast 20 Meter Höhe über dem Boden der Klippe.
Der Besucher, der mit etwas Mut und ohne Höhenangst das Durcheinander von Balken auf einer Beplankung betritt, hat von dort oben einen freien Blick auf die Loire und die Stadt Nantes. In Deutschland hätte dieses Kunstwerk wohl mindestens zehn Jahre lang eine Sicherheitsüberprüfung der Behörden über sich ergehen lassen müssen. Auch vom Schiff aus bietet sich eine imposante Sicht, selbst wenn man nicht die Erfahrung des Schritts von der Klippe ins Leere machen kann. Hier haben die Radler, die die Strecke von Nantes an die Küste an Land zurücklegen, einen Vorteil: Sie können die Plattform samt Kunstwerk erklimmen und inspizieren.
Das Haus an der Loire mit Schlagseite
Viel Zeit bleibt dem Beobachter auf dem Schiff nicht, denn schon gleitet am Ufer ein nächstes Projekt in den Blick. Es trägt den Titel „Serpentine rouge“, die Rote Serpentine, und wurde von Jimmie Durham, einem Cherokee aus Arkansas geschaffen. Das seltsame rote „Industrietier“ von 40 Metern Länge besteht aus Rohren und erinnert an eine Seeschlange, die aus dem Wasser kriecht, sich dann einen Ponton entlang windet und zum Schluss aufstellt, um scheinbar einen Blick auf den Fluss zu werfen. Das Credo von Durham besteht darin, Alltagsgegenstände wie eine Rohrleitung in kuriose geheimnisvolle Kreaturen zu verwandeln.
Es ist kaum Zeit zum Nachdenken über künstlerische Konzepte des „wilden Denkens“, denn das Schiff zieht vorbei und zum nächsten Kunstwerk, das spektakulär und häufiger in Abbildungen präsentiert wird. Das „Haus an der Loire” oder „La Maison dans la Loire“ von Jean-Luc Courcoult steht am Ufer der Loire in Couëron, 16 Kilometer von Nantes entfernt.
Zu sehen ist ein Haus, dessen Fundamente im Schlick versunken sind. Es steht leicht schief, die Fensterläden sind geschlossen. Es ist die äußere Hülle eines Hauses ohne Innenleben. Es steht einsam im flachen Flussbett, scheint mit etwas Schlagseite wie ein Schiffswrack im Wasser zu treiben, irgendwie geheimnisvoll.
Der Künstler nennt dieses von ihm geschaffene verschlafene Haus „imaginären Realismus“, es ist konkret und greifbar und kann in das Leben der Menschen ein wenig Träume bringen. Auf jeden Fall ist es ein attraktives Fotomotiv.
Die Villa auf dem Schornstein
Am Ufer bei Cordemais grüßt das nächste Kunstwerk, die „Villa Cheminée“, die Schornsteinvilla von Tatzu Nishi. Schon von weitem ist vom Boot ein rot-weißer Turm sichtbar, auf dem ganz oben ein winziges Häuschen mit Garten thront. Ein Rückblick in die 70ere Jahre. Zumindest überraschend, vielleicht für manchen ein visueller Schock. Eine Pointe besteht darin, dass man in dem Penthaus auf dem Schornstein sogar übernachten kann. Für eine Nacht 130-140 Euro mit Frühstück, wie im Internet zu erfahren ist.
Ein Stück weiter trifft man auf einer Schleusenmauer auf ein Segelboot, das sich dem Fluss entgegen biegt, so als ob es von diesem unwiderstehlich angezogen wird. Der Österreichische Künstler Erwin Wurm hat sein Kunstwerk „Misconceivable“ – „Missachtbar“ genannt
Das größte Flüssiggas-Terminal in Europa
Je mehr man sich der Küste und Saint-Nazaire nähert, desto mehr wird die mit Kunstwerken gespickte gepflegte Naturlandschaft von Hafenanlagen mit Kränen und Lagerhallen abgelöst.
Mit Tremolo in der Stimme berichtet der Reiseführer auf dem Schiff, dass sich hier in Saint-Nazaire der viertgrößte Hafen von Frankreich befindet. Durch regelmäßige Schiffslinien sind Saint-Nazaire und Nantes mit der ganzen Welt verbunden, hier am Loire-Ufer steht man schon mit einem Fuß in Afrika oder in Amerika. Und der Hafen erlebt mit seinen Energie-Importen von Rohöl und Flüssiggas einen unvorstellbaren Aufstieg. Sein Flüssiggasterminal ist das größte seiner Art in Europa. Das beeindruckt auch die Touristen.
Die Stadt der Ozeanriesen
Eine Stadt am Meer wie Saint-Nazaire hat viel zu bieten: Strände und kleine Buchten, Felsvorsprünge und Klippen und eine Seepromenade. An ihrem Ende stehen bunte Fischerhäuschen auf Stelzen – bei Flut liegen die Fischernetze im Wasser und kommt die Ebbe, zappeln ein paar Fische im Netz.
Sie erinnern daran, dass noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts der kleine Ort mit ein paar hundert Einwohnern ein Vorhafen von Nantes war, sich dann aber schnell zum Überseehafen entwickelte. Um 1900 hat Saint-Nazaire schon 30.000 Einwohner. Nunmehr werden hier seit 150 Jahren Ozeanriesen gebaut, früher die legendären Transatlantiker-Liner, heute die größten Kreuzfahrtschiffe der Welt wie die Queen Mary 2, das Flaggschiff der Cunard-Flotte.
Havanna-Viertel der Belle Époque
Beeindruckend auch die historischen Stadtviertel mit ihrer Vielfalt. Da gibt es an der Seepromenade das Havanna-Viertel mit seinen Villen aus der Belle Époque um 1900. Die Straßennamen sind nach Überseehäfen benannt, die früher Ziel der Ozeanriesen waren, wie Veracruz und auch Havanna. Hier am Ufer direkt an der Seepromenade steht eine imposante Statue.
Sie zeigt einen amerikanischen Soldaten des 1. Weltkrieges, einen „Sammy“, der auf dem Rücken eines Adlers bis nach Europa getragen wurde. Dank der Hafenanlagen und der Anbindung an das Schienennetz wurde die Stadt von 1917 bis 1919 Stützpunkt der amerikanischen Armee in Europa. Als die Alliierten im 2. Weltkrieg Saint-Nazaire auf Grund des deutschen U-Boot-Bunkers schwer zerbombten, war zum Kriegsende 85 Prozent der Stadt zerstört. In 14 Jahren entstand ein neues Saint-Nazaire.
U-Boot-Bunker als Kultur-Zentrum
Noch heute steht er im Hafen – der U-Boot-Bunker, 300 Meter lang und mit einem 9,60 Meter dicken Betondach ausgestattet. Er wurde im Jahr 1942 von der deutschen Kriegsmarine als strategischen Bestandteil des Atlantikwalls in Saint-Nazaire errichtet. Und der Bunker erlebte eine wunderbare Verwandlung von einer Garage für Tötungsmaschinen zu einem Kulturzentrum – die französische Umsetzung des Bibelzitats von „Schwertern zu Pflugscharen“. Mit viel Ideen und Kreativität umgebaut, geben sich hier jetzt in dem Bunker-Koloss Kultur und Tourismus ein Stelldichein. Der Besucher kann immer noch an ehemaligen U-Boot-Boxen vorbei spazieren.
Nicht wenige ältere der deutschen Gäste erinnern sich an den Bestseller-Roman „Das Boot“ von Lothar-Günther Buchheim, erschienen 1973. Darin schildert der Autor, damals als Kriegsberichterstatter im Einsatz, Leben und Tod in einem U-Boot, das im Zweiten Weltkrieg in Saint-Nazaire stationiert war. Neben dem Roman von Theodor Plievier „Stalingrad“ gehört das Buchheim-Buch zu den besten deutschen Antikriegsbüchern. Die Verfilmung des Buches durch Wolfgang Petersen erhielt 1983 sechs Oscar-Nominierungen und in ihr sind auch U-Boot-Boxen zu sehen, allerdings wurde der Film in La Rochelle gedreht.
Ozeanriesen öffnen die Welt
Heute beherbergt der U-Boot-Bunker von Saint-Nazaire das Escal‘Atlantic, ein ganz besonderes Museum, in dem der Besucher eine faszinierende Reise in die Welt der Ozeanriesen unternehmen kann. Die großen Ozeandampfer haben die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte entscheidend mitgeprägt. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts machte Dampfantrieb die Schifffahrt weitgehend von den Wetterbedingungen unabhängig und es konnte sich regelmäßiger Linienverkehr zwischen den Kontinenten entwickeln.
Die ersten Kapitel dieser Öffnung hin zur „Neuen Welt“ schrieben sowohl reiche Geschäftsmänner als auch die Millionen von Auswanderern, die auf der Suche nach einem besseren Leben den Ozean überquerten. Im Jahr 1862 eröffnete der Dampfer „La Louisiane“ die erste regelmäßige Linie von Saint-Nazaire nach Mittelamerika. Auf dem Atlantik gab es keine Zwischenstopps. Deshalb musste jedes Schiff genügend Proviant an Bord haben, um mehrere tausend Personen drei Mal täglich zu verköstigen. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts konnten Passagiere, Waren und Post nur auf dem Seeweg von einem Kontinent zum anderen gebracht werden.
Willkommen an Bord
In dieser Ausstellung wird mit Originalobjekten eine Atmosphäre geschaffen, als wäre der Besucher an Bord des riesigen Ozeandampfers. Eine Gangway führt in das Schiff, wo dann mehr als 20 Ausstellungsräume warten mit der Eingangshalle und den Kabinen, neben Luxus-Suiten ist auch eine Kabine der Dritten Klasse mit sechs Schlafkojen zu sehen. Und da lernt der Besucher, der heute eher Interkontinental-Flüge kennt, dass eine Kabine nicht ist wie jedes andere Schlafzimmer. Die Kabinendecke ist aus vernietetem Metall, es gibt Bullaugen und an den Betten ist ein Fallschutz angebracht, damit man bei rauer See nicht herausfällt.
Cocktails aus der Schiffs-Bar
Besondere Höhepunkte sind das Promenadendeck und die Schiffs-Bar. Während der Besucher an Deck scheinbar die kühle Luft des Meeres verspürt, beobachtet er dank Multimedia, wie andere Schiffe vorbeiziehen. Und sogar eine kleine Gruppe von Eisbergen kann er erspähen. Aufwärmen kann er sich dann in der originalgetreu nachgebauten Schiffsbar des Ozeanliners „France“.
Zum musealen Service gehört auch, dass er unter dem imposanten Leuchter Platz nimmt, die schmucken Muster von Wandbehängen betrachtet und er auch die Drinks aus der damaligen Cocktail-Karte des Jahres 1962 bestellen kann. Welches Museum bietet seinen Besuchern alkoholische Cocktails an? Einzige Bedingung ist ein Museums-Ticket und selbstverständlich ein Alter, das den Alkoholkonsum erlaubt. Nach einem kurzen Videofilm über die Ozeanriesen im Kinosaal erfolgt der Ausgang standesgemäß: Mit einem Rettungsboot wird der Besucher nach unten gehievt und erreicht dann den Ausgang.
Betonkoloss mit Panorama-Terrasse
Mit dem Fahrstuhl geht es auf das Dach des Betonkolosses, der jetzt eine überdimensionale Aussichts-Plattform darstellt, mit Sicht auf den Hafen von Saint-Nazaire, die Loire Mündung bis hin zur Werft. Hier auf dem Dach erwartet den Besucher die Arbeit des französisch-schweizerischen Künstlers Felice Varini. Eine Folge von roten Dreiecken erstreckt sich dreidimensional auf insgesamt zwei Kilometern über die ganze Hafenlandschaft. Man sieht das gesamte Werk nur von der Terrasse hier oben. Es trägt den Titel „Suite de Triangles“ oder „Folge von Dreiecken“.
Außerdem ist auf der großräumigen Terrasse der Designer, Gartenarchitekt und Botaniker Gilles Clément aktiv. Er kreierte auf der Betonfläche den „Dritten Landschaftsgarten“ – „Le Jardin du Tiers-Paysage“. Die unterschiedliche Beschaffenheit des Daches ausnutzend entstanden drei Gärten, ein Espenwald, ein Euphorbien-Garten und in den Vertiefungen dazwischen sammelt der sogenannte Etikettengarten all das auf, was Wind, Vögel und unsere eigenen Schuhsohlen dort ablegen.
Kunst am Strand – einfach umwerfend
Ein Treffpunkt in Saint-Nazaire ist der Place du Commando. Von hier gibt es eine sagenhafte Aussicht auf die Loire Mündung.
Zugleich ist der Platz ein Ausgangspunkt auf dem Weg zu insgesamt zwanzig (!) Stränden und einer drei Kilometer langen Seepromenade, die man als Jogger und Wanderer noch auf ein Dutzend Kilometer erweitern kann.
Tourismus-Managerin Maria Bibard macht allen Touristen Mut, den Besuch von Saint-Nazaire mit Wanderstiefeln oder dem Rad zu verbinden, um ein Stück vom Küstenpfad oder den alten Zöllnerpfad zu entdecken. „Der Zöllnerpfad ist ein öffentlicher Fußweg. Er führt 2000 Kilometer die bretonische Küste entlang und bietet spektakuläre Sichten“, so Maria Bibard.
Am Place du Commando steht auch ein weiteres Wahrzeichen, an das sich die Touristen erinnern werden: „Le Pied, le Pull-over et le Système digestif“, „Der Fuß, der Pullover und das Verdauungssystem“, des Künstlerduos Daniel Dewar und Grégory Gicquel. Es ist der Abschluss des Kunstparcours „Estuaire Nantes – Saint-Nazaire“. Je nach den Gezeiten stehen die aus großen Betonblöcken gehauenen gigantischen Skulpturen mehr oder weniger im Wasser. Ein echter Hingucker. Die Kunst an der Küste von Nazaire ist einfach umwerfend.
www.saint-nazaire-tourisme.com
www.levoyageanantes.fr/les-parcours/parcours-estuaire-nantes-saint-nazaire/