Zusammenfassung für Eilige: Dr. Daniel Stelter beschreibt in diesem Gastbeitrag die 4 Phasen der Finanzkrise, also der derzeitigen Krise, und zeigt auf, dass wir uns erst in der 2 Phase der Finanzkrise befinden. Corona musste nicht die Krise auslösen hatte aber das Potential dazu. Wie in allen historischen Ereignissen sieht man vor allem hinterher, dass es so kommen musste und wie man hätte besser reagieren können. Doch durch seine Analyse der Phasen haben wir immer noch Handlungsmöglichkeiten. Wir müssen aber die genannten Probleme lösen und sie nicht weiter ignorieren, den ein „weiter-so“ wäre fatal.
Am Donnerstag zog die EZB im Kampf gegen eine drohende Rezession eine weitere milliardenschwere Finanzspritze auf. Die Reaktion der Finanzmärkte war eindeutig: Zu wenig, zu zaghaft, ungenügend. Auf den freien Fall folgte am Freitag zumindest in den USA ein erster Erholungsversuch, denn auch die US-Notenbank Fed und die US-Regierung stemmen sich nun mit milliardenschweren Hilfsprogrammen gegen die Krise. Doch ist das Schlimmste damit bereits überstanden?
Anlass, um den Ereignissen der vergangenen Wochen auf den Grund zu gehen. Und das Ergebnis der Analyse fällt ernüchternd aus: Wir befinden uns erst in Phase 2 einer vierstufigen Krise.
Auf die Corona-Epidemie und die daraus folgende aktuelle Finanzkrise folgt ein deflationärer Schock für die Realwirtschaft, und am Ende steht die Frage, ob unser Geld- und Wirtschaftssystem wirklich noch funktioniert.
Phasen der Finanzkrise – Phase 1: Die Epidemie, die keine Krise werden musste
Wir hatten zunächst einen Ausbruch des neuartigen Virus in China, die dortigen Behörden gingen mit einer für westliche Gesellschaften bislang undenkbaren Konsequenz gegen das Virus vor und scheinen damit Erfolg zu haben:
Die Infektionen gehen inzwischen zurück. Natürlich ist das Virus auch in China nicht besiegt, es wird bleiben, die Bevölkerung durchseuchen und China Jahre begleiten. Die Behörden haben aber Zeit gewonnen. Wir wissen, dass es vor allem darum geht, die Anzahl der schwerkranken Menschen über einen möglichst langen Zeitraum zu strecken, will man nicht durch den Kollaps des Gesundheitssystems die Anzahl der Toten in die Höhe treiben.
In der westlichen Welt herrschte zu dieser Zeit bei den politischen Verantwortlichen Tiefenentspannung. China ist weit und was wissen wir schon, was da auf einem lokalen Geflügelmarkt entkommen ist? Karneval muss gefeiert werden und Fußballspiele müssen stattfinden.
Dann tauchte das Virus plötzlich in Italien auf. Auch hier waren die Vorurteile schnell formuliert. Die Italiener haben geschlafen, sind ohnehin sehr alt und das Gesundheitssystem ist nicht so gut wie bei uns.
Jetzt ist das Virus überall. Statt aus den Erfahrungen der anderen Länder zu lernen, streiten sich unsere Politiker über Schulschließungen und Helden wie der Berliner Bürgermeister schütteln weiter Hände und machen sich über das Virus lustig, was ja nur so tödlich sei, wie ein normales Grippevirus. Dass dies aber auf eine ungeimpfte und nicht immune Bevölkerung trifft und es vor allem die Schwächsten erreicht, schien dem Bürgermeister nicht so wichtig.
Donald Trumps katastrophales Krisenmanagement
Da tröstet es nicht wirklich, dass es in den USA schlimmer zugeht. Die westliche Welt ist gerade drauf und dran, sich bei der Bekämpfung einer Gesundheitskrise historischen Ausmaßes bis auf die Knochen zu blamieren.
Trump hat den Expertenstab für Pandemien im Weißen Haus bereits kurz nach seinem Amtsantritt aufgelöst. Er hat auch jetzt die Risiken durch das Virus heruntergespielt. Testkits waren im teuersten Gesundheitssystem der Welt tagelang nicht verfügbar, die Dunkelziffer an Infektionen in den USA ist entsprechend hoch. Erst mit wochenlanger Verspätung ruft Trump den nationalen Notstand aus und dürfte für sein schlechtes Krisenmanagement noch die Quittung bekommen.
Denn wie es geht, zeigen die Nachbarländer Chinas. Taiwan, Vietnam, Hongkong und Singapur haben es mit konsequenten Maßnahmen gleich zu Beginn der Epidemie geschafft, die Erkrankungszahlen gering zu halten. Obwohl die Länder direkt an China angrenzen, liegen die Zahlen der Infizierten absolut und relativ zur Bevölkerung deutlich unter den Werten in Europa. Selbst Südkorea, besonders von der Epidemie getroffen – unter anderem aufgrund einer Massenhochzeit –, beweist, wie gut man eine Epidemie in den Griff bekommen kann.
Die Todesrate liegt deutlich unter der in anderen Ländern.
Dieser Erfolg der Asiaten ist kein Zufall. Sie haben die Erfahrungen mit SARS gemacht und daraus Schlüsse gezogen. Unsere Politiker hingegen halten es nicht für nötig, von anderen zu lernen, sondern müssen uns unbedingt die Erfahrung auch gönnen. Damit kam es zur Phase 1 der Virus-Krise.
Phasen der Finanzkrise – Phase 2: Die Finanzkrise, die nur auf den Auslöser wartete
Es beginnt nun die Phase 2, die Finanzkrise. In den vergangenen Wochen erlebten wir atemberaubende Einbrüche an den Aktienmärkten. Beobachter reiben sich die Augen und fragen, weshalb sich das Virus so verheerend an den Börsen auswirkt. Das Virus hat zwar unzweifelhaft ökonomische Folgen – doch Wertverluste von 30 bis 40 Prozent?
Immer wieder habe ich an dieser Stelle erläutert, weshalb unser Finanzsystem in den Jahren seit der Finanzkrise nicht, wie von der Politik behauptet, sicherer, sondern im Gegenteil immer unsicherer geworden ist. Auch habe ich stets vor den katastrophalen Folgen gewarnt, wenn es denn zu einem Einbruch käme. Was diesen auslöst und wann das der Fall sein würde, konnte auch ich nicht sagen. Ich wusste aber, dass, wenn es anfängt, nur schwer ein Halten zu finden ist. Deshalb auch der Kauf des „Armageddon-Puts“.
Folgende Faktoren kommen in dieser Finanzkrise zusammen:
Leverage
Dies ist ein entscheidender Faktor, um zu verstehen, was an den Märkten passiert (Wer sich mit Leverage auskennt, kann gleich zum nächsten Bullet-Point springen). Nehmen wir an, Sie könnten sich eine Aktie zu 100 Euro kaufen, die eine sichere Dividende von zehn Euro pro Jahr bezahlt. (Ja, in der heutigen Zeit undenkbar, aber dazu kommen wir gleich) Setzen Sie für den Kauf nur Eigenkapital ein, erzielen Sie eine Rendite von zehn Prozent.
Attraktiver wäre es, sich 100 Euro von der Bank zu leihen und gleich zwei Aktien zu kaufen. Gibt die Bank sich mit fünf Prozent Zinsen zufrieden, gehen fünf Euro an die Bank und 15 Euro bleiben bei Ihnen. Macht 15 Prozent Rendite. In der Praxis dürfte die Bank großzügiger sein und sich mit nur 20 Prozent Eigenkapital zufriedengeben. Sie können sich also zu Ihren 100 Euro noch 400 Euro von der Bank leihen und fünf Aktien kaufen. Von den 50 Euro Dividende gingen dann 20 Euro an die Bank (fünf Prozent auf 400) und Ihnen blieben 30 Euro. Eine Rendite von dreißig Prozent auf das eingesetzte Eigenkapital. Nun merken auch andere, was für ein gutes Geschäft das ist und geben sich mit Renditen unter 30 Prozent zufrieden, zahlen also mehr für die Aktie. Steigt der Kurs auf 140 Euro, haben Sie nicht nur einen schönen Kursgewinn erzielt, sondern wieder erheblich mehr Eigenkapital. Ihre zur Beleihung zur Verfügung stehende „Margin“ erhöht sich dadurch auf 300 Euro (100 plus 200 Kursgewinne).
Zwar ist die Dividendenrendite von zehn auf nur noch sieben Prozent gefallen. Doch liegt sie damit weiter über dem Zinssatz der Bank. Sie leihen sich weitere 840 Euro und kaufen dazu. Dann haben Sie elf Aktien im Wert von 1540 Euro und Schulden von 1240 Euro. Die Rendite auf Ihr Eigenkapital von 300 Euro sinkt zwar auf 16 Prozent, der Gesamtüberschuss (Dividende minus Zinsen) wächst allerdings von 30 auf 48 Euro.
Zusammengefasst:
Es lohnt sich, solange mehr Schulden aufzunehmen, wie die Dividendenrendite über dem Zinssatz der Bank liegt. Man spricht vom Hebeleffekt (Leverage). Das funktioniert aber nur, so lange die Papiere im Wert steigen und der Kreditgeber keinen Nachschuss auf das Eigenkapital („Margin Call“) verlangt. Kann man dann kein Geld nachschießen, muss verkauft werden.
Überbordende Verschuldung
Leverage macht, wie gezeigt, sehr viel Spaß auf dem Weg nach oben. Kommt noch der Eindruck hinzu, dass die Notenbanken einen immer raushauen, wenn es eng wird und Geld billig zur Verfügung stellen, geht man erst recht höhere Risiken ein. Genau dies hat in die Finanzkrise geführt und genau das haben wir in den letzten zehn Jahren befördert.
Dabei findet Leverage auf allen Ebenen statt:
Die Unternehmen leihen sich billiges Geld, um eigene Aktien zurückzukaufen oder Wettbewerber zu übernehmen. Der Effekt ist: Man ersetzt teures Eigenkapital durch billiges Fremdkapital und weist so steigende Gewinne aus. Werden Aktien zurückgekauft, steigt durch die rückläufige Anzahl Aktien der Gewinn pro Aktie noch schneller. Die Börse freut es und die Manager bekommen höhere Boni.
Investoren werden ins Risiko gezwungen
Damit nicht genug: Die Investoren sind angesichts der tiefen Zinsen gezwungen, mehr Risiken einzugehen, um ihre Performance aufzubessern. Das führt dann dazu, dass sie riskante Anleihen der Unternehmen zu immer höheren Preisen kaufen und den Zinsunterschied („Spread“) zu Staatsanleihen damit runtertreiben.
- Folge: Die Unternehmen machen noch mehr Schulden – und das am „optimalen Punkt“, nämlich im Bereich der BBB-Papiere, die Investoren wie Pensionsfonds gerade noch kaufen dürfen. Sowohl in Europa wie in den USA ist dieses Segment in den vergangenen Jahren förmlich explodiert.
- Weitere Folge: Die Investoren beginnen, ebenfalls mit Leverage zu arbeiten. Sie kaufen die Unternehmensanleihen auf Kredit, weil sie damit wiederum die Rendite ihres Eigenkapitals erhöhen. Die Ratingagenturen drücken derweil bei den Ratings ein Auge zu, wären doch viele Unternehmen sonst in großer Not – General Electric ist ein weithin bekanntes Beispiel dafür.
- Wir haben also Leverage Hoch 3: auf Ebene der Unternehmen, auf Ebene der Investoren und sich gegenseitig aufschaukelnd nochmals auf beiden Ebenen
Die Privaten in die Falle locken
Zu dem Spiel gehört auch, die privaten Investoren, die vor denselben Herausforderungen stehen wie die institutionellen, in das Spiel zu bekommen. Dazu wurden die praktisch „risikofreien“, weil täglich handelbaren, ETFs propagiert. Diese wären nicht nur kostengünstig, sondern auch jederzeit zu verkaufen. Was nicht verraten wurde: Gerade bei Fonds, die in Anleihen investieren, ist es in der Praxis nicht möglich beziehungsweise nur unter großen Abschlägen. Der Markt ist nämlich nicht so liquide, wie gern erzählt wurde. Das aber verstärkt im Falle einer Panik die Abwärtsentwicklung.
Falsche Regulierung
Wie schon in der Finanzkrise wird auch hier falsch reguliert. Statt das Problem an der Wurzel zu packen – an der hohen Verschuldung –, wurde an Symptomen herumgedoktert. So können Banken heute faktisch nicht mehr als Marktmacher agieren, halten kein eigenes Buch mehr. Was die Banken sicherer machen sollte, gestaltet das System unsicherer, weil es im Fall der Fälle keine Käufer mehr gibt. Das beschleunigt die Panik.
Das Leverage-Monster wird von den Notenbanken weiter gemästet
Das ist alles lange bekannt. Jeder konnte sehen, wie mit einer weiteren Runde von Wertpapierkäufen durch die Notenbanken – angeblich zur Bekämpfung der Deflation – das Leverage-Monster gemästet wurde. Die Profis wussten, dass die Regulierung den Ausgang aus dem Markt verengte. Alle tanzten nach dem Motto, es wird schon gut gehen, denn die Notenbanken kommen immer, wenn es brenzlig wird. Die Vermögenspreise stiegen weiter und der Leverage wurde nachgezogen.
Nun dreht sich das Leverage-Spiel um
Doch nun haben wir einen anderen Auslöser. Einen Virus, der Nachfrage- und Angebotsseite trifft. Und wir haben es mit Notenbanken zu tun, die ihre Munition in den letzten Jahren schon verfeuert haben, im Bemühen, die keineswegs bewältigte Finanzkrise zu unterdrücken.
Damit kommt es zum Crash. Das Leverage-Spiel dreht sich um:
- Unternehmen mit hohen Schulden merken plötzlich, dass der Cashflow sinkt. Das wirkt sich überproportional auf die Gewinne aus und gefährdet die Fähigkeit, Schulden zu bedienen. Das Rating wackelt. Kein Wunder, dass Unternehmen mit hohen Schulden am stärksten gefallen sind.
- Die Anleihengläubiger dieser Unternehmen werden nervös und wollen verkaufen. Dabei merken sie, dass die Liquidität im Markt nicht so ist, wie erwartet. Der Verkaufsdruck nimmt zu. Anleihenfonds fallen.
- Die Börsianer erkennen, dass die Gewinnerwartungen – die ohnehin schon überzogen waren – nicht zu halten sind. Vor allem haben sie Angst, andere könnten vor ihnen verkaufen. Die Kurse beginnen zu sinken.
- Alle, die auf Kredit gekauft haben, werden nervös. Denn sobald die Preissteigerungsrate des gekauften Gutes unter die Finanzierungskosten sinkt, sind wir in der Crash-Zone. Dies erklärt auch, warum es selbst bei Null- und Negativzins Crashs geben kann.
- Die Verkaufswelle beginnt und verstärkt sich immer mehr. Margin Calls nehmen zu, es geht nur noch um Liquidität. Deshalb fällt am Ende alles, selbst Gold und zuweilen sogar Staatsanleihen. Es ist das De-Leveraging in Höchstgeschwindigkeit und es gilt das Bonmot: If you want to panic, panic first!
In dieser Phase befinden wir uns. Ob sie schon zu Ende ist? Gut möglich, aber es ist noch lange nicht Zeit für eine Rückkehr im Dax über 13.000 Punkte. Phase 2 läuft weiter.
Phasen der Finanzkrise – Phase 3: Die Realwirtschaft, die einen deflationären Schock gar nicht verkraftet
Während Phase 2 sich weiterentwickelt, beginnt Phase 3. Das Virus hätte unstrittig Auswirkungen auf die Realwirtschaft gehabt. Aber diese wären beherrschbar gewesen, wenn die Politiker des Westens wie Singapur, Taiwan und Vietnam gehandelt hätten. Und wenn das Chaos nicht auf eine Finanzwelt getroffen wäre, die – angefeuert vom billigen Geld der Notenbanken (die damit das Versagen der Politik Grundprobleme wie dysfunktionalen Euro und überschuldete Welt zu lösen kaschiert haben) – den Leverage auf die Spitze trieb. Auf die Finanzkrise folgt nun die Wirtschaftskrise.
Wie in der Finanzkrise haben wir es mit einem deflationären Schock zu tun. Verfallende Vermögenspreise führen bedingt durch die hohe Verschuldung bei immer mehr Wirtschaftsteilnehmern zum Zustand der Überschuldung. Eine Welle von Konkursen mit verheerenden Auswirkungen müsste zwangsläufig die Folge sein, was wie wir an der Großen Depression der 1930er-Jahre studieren können. Irving Fisher, Professor in Yale, beschrieb den Ablauf in seiner „Debt-Deflation-Theory of Great Depressions“ anschaulich. Eine Beschreibung, die auf jeden Prozess des De-Leveraging zutrifft, auch auf den vor uns liegenden, wenn die Politik nicht beherzt eingreift.
Dabei trifft der Prozess keineswegs nur die bösen Spekulanten. Es trifft jeden, der mit Kredit arbeiten muss und damit die gesamte Wirtschaft: Restaurants, Hotel, Handwerker, Industriebetriebe. Alle haben finanzielle Verpflichtungen, denen sie sehr schnell nicht nachkommen können, wenn sie keine Einnahmen mehr haben: Miete, Zins, Tilgung, Löhne, Steuern und Sozialabgaben. Alles will bezahlt werden, auch wenn keine Kunden kommen.
Damit wird der Einbruch an den Finanzmärkten zu einem realen Problem und es verstärkt sich, wenn die Marktteilnehmer Zweifel daran bekommen, dass es der Politik noch gelingt, diese Depression zu verhindern. Und diese Zweifel sind angebracht:
Verstehen es die Politiker?
Grünen-Chef Habeck schlug in den Heute-Nachrichten des ZDF vor, Hotel- und Restaurantbesitzer sollten die Zeit nutzen, ihre alte Ölheizung durch ökologische Technologien zu ersetzen.
Weshalb Unternehmen, die keine Liquidität haben, um ihren laufenden Verpflichtungen nachzukommen, Geld, das sie nicht haben, für eine Investition ausgeben sollen, die sich nicht rechnet, erklärte er nicht. Glücklicherweise scheint sich bei der Regierung die Erkenntnis durchzusetzen, dass mehr Maßnahmen nötig sind. Das Freitag verkündete „what-ever-it-takes“ Programm der Bundesregierung ist da schon besser, kann aber nur Schaden begrenzen, nicht verhindern.
Dies liegt vor allem an der weltweiten Lage. Während 2009 noch ein globaler Konsens zur Zusammenarbeit bestand, muss man heute befürchten, dass es den nicht mehr gibt. Gerade auch in den USA. Dies erhöht die Gefahr von zu wenig oder falschen Maßnahmen.
Verstehen es die Notenbanken?
Man könnte hoffen, ja. So soll Frau Lagarde in der Videokonferenz mit den EU-Regierungschefs Parallelen zur Finanzkrise gezogen haben. Dies spricht dafür, dass ihr und den anderen die Dynamik von Leverage und De-Leverage vertraut ist, erklärt aber nicht, warum die Notenbanken in den letzten zehn Jahren das Spiel befeuerten. Denn sie können sich jetzt nicht mit Unkenntnis herausreden.
Können die Notenbanken noch etwas bewirken?
Die Notenbanken haben seit der Finanzkrise ihre Bilanzen um 14.000 Milliarden US-Dollar ausgeweitet. Sie haben die Zinsen in Richtung null – oder in Japan und der Eurozone – unter null getrieben, sie haben Banken, die eigentlich insolvent sind, immer mehr Rettungsschirme zugeworfen. Alles angeblich, um Deflation zu bekämpfen, in Wirklichkeit, um das schon seit der Finanzkrise erforderliche De-Leveraging zu vermeiden.
Damit sind die Notenbanken am Ende der normalen Möglichkeiten. Dies steckt hinter dem Entscheid der EZB von gestern. Dies steht auch hinter der enttäuschenden Reaktion an der Wall Street auf die Maßnahmen der Fed. Das Ende des Glaubens an die Allmacht der Notenbanken hat begonnen. In den kommenden Jahren werden diese Institutionen deutlich auf den Prüfstand gestellt werden, tragen sie doch eine erhebliche Mitschuld an den Blasen und Krisen der letzten 30 Jahre.
Irving Fisher hat schon vor 90 Jahren erklärt, wie man eine deflationäre De Leveraging-Krise stoppt:
Man muss die Vermögenspreise nach oben treiben, man muss die Liquidität bereitstellen, man muss quasi die Basis, auf der Kredite vergeben wurden, wiederherstellen. Klar, dass das immer schwerer wird, je höher die Schulden sind.
Da die Notenbanken ihren Trick nicht mehr hinbekommen, wachsen die Sorgen, dass es mit der Wirtschaft eben länger und tiefer bergab geht. Je länger Phase 2 andauert, desto höher die Wahrscheinlichkeit für eine längere Phase 3 – was dann Phase 2 wiederum verlängert.
Die Antwort wird in der koordinierten Geld- und Fiskalpolitik liegen: von den Notenbanken direkt finanzierte Konjunkturprogramme des Staates. Helikoptergeld, Modern Monetary Theory (MMT), Green Deal – wir werden alles bekommen.
Zwei Fragen sind dabei relevant: Wie lange dauert es, bis solche Maßnahmen umgesetzt werden und in welcher Region der Welt zuerst? Ich wette auf die USA (China macht das sicherlich bereits) und denke, dass die Eurozone am längsten braucht. Aber selbst, wenn: Phase 3 mag dadurch verkürzt werden. Verhindern können wir sie nicht mehr.
Phasen der Finanzkrise – Phase 4: Die Systemfrage wird offensichtlich
Es gärt schon seit Langem in den Gesellschaften des Westens. Spätestens seit der Finanzkrise ist klar, dass das Geldsystem durch die Fehlanreize der Notenbanken und durchaus im Interesse der Politiker immer mehr aus dem Ruder gelaufen ist. Im Kern lassen sich folgende Probleme diagnostizieren:
- immer größerer Anteil des Finanzsektors an der Wirtschaftsleistung
- zunehmende Zombifizierung der Realwirtschaft
- abnehmende Produktivitätsfortschritte
- stagnierende Realeinkommen
- zunehmende Ungleichheit der Vermögensverteilung
Die Antworten zur Lösung dieser Probleme sind politisch nicht einfach: geht es doch um eine Abkehr von der Droge des billigen Geldes, echte Reformen zur Steigerung der Produktivität und eine Reduktion der viel zu hohen Verschuldung. In Europa kommt das Konstrukt des Euro hinzu, dass statt zu einer Konvergenz zu einer zunehmenden Divergenz der Wirtschaften führt.
Die zweite Finanzkrise innerhalb von zehn Jahren und die demnächst offen wieder aufbrechende Eurokrise nach weniger als acht Jahren führen den Bürgern vor Augen, dass die Politik ihre Arbeit nicht macht. Die unzureichende Reaktion auf die Epidemie, also das Versagen, die Gesundheit der Bürger zu verteidigen, kommt hinzu und wird das Vertrauen in die politischen Eliten zusätzlich schwächen. Polarisierung und Radikalisierung werden zunehmen. Derweil beweisen die aufstrebenden Nationen Asiens, wie man es macht: gelenkte Wirtschaft, starker Staat, stabile Finanzsysteme.
Die Systemfrage liegt auf dem Tisch und der Westen macht keine gute Figur.
Ausblick Phasen der Finanzkrise:
Phasen 1 bis 3 werden uns in diesem Jahr begleiten. Hoffen wir, dass es gelingt, sie so kurz und schmerzfrei wie (noch) möglich zu gestalten. Phase 4 gewinnt an Schwung und präsentiert uns allen die Rechnung für das Leugnen und Verschleppen grundlegender Probleme in den letzten Jahrzehnten.
Ein „Weiter-so“ wird es nicht geben.