Freitag, April 12, 2024
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Dyskalkulie: Diagnose und Therapie

Rechenschwache Kinder sind nicht dumm

(pgk) Zählen, abziehen, teilen und malnehmen: Rechnen macht Spaß – wenn man es kann. Zu einer Quälerei wird es für die rund fünf Prozent der Schüler, die nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO unter der so genannten Dyskalkulie, der Rechenschwäche, leiden. Ihnen fehlt die Fähigkeit, hinter den Zahlen die Menge zu sehen – und damit das mathematische Verständnis, das eigentlich schon im Vorschulalter ausgeprägt sein sollte.

Dyskalkulie – was ist das?

Dyskalkulie-Kinder lernen Zahlen und ihre Reihenfolge auswendig. Sie addieren und subtrahieren durch Auf- und Abzählen mit Fingern und „Luftfingern“. Sie sehen widersprechende Ergebnisse nicht, verknüpfen wahllos Größenangaben und verstehen Textaufgaben nicht. Die Lehrer halten den Schüler oft für unwillig, faul, wenig begabt und unkonzentriert. Und das Kind glaubt, es sei „doof“. Viele der Kinder kompensieren die Lernschwäche auch durch Auswendiglernen und Fleiß. Die Schwäche wird nicht erkannt, so dass selbst ein Besuch des Gymnasiums nicht ungewöhnlich ist.

Dyskalkulie ist eine Entwicklungsverzögerung des mathematischen Denkens. Genetische Faktoren spielen bei der Entstehung von Dyskalkulie – wie auch bei Legasthenie, der Lese und Rechtsschreibschwäche – eine entscheidende Rolle. Auch das Lernumfeld oder das Elternhaus können die Entwicklung der Rechenschwäche begünstigen. Dyskalkulie kann zu Ängsten oder Depressionen führen. Häufig leiden die Kinder unter Kopf- und Bauchschmerzen.

Diagnose Dyskalkulie

Schon im Kindergarten und in den ersten zwei Schuljahren sollten Pädagogen auf Anzeichen der Rechenschwäche achten, denn bereits dann werden die Fundamente für ein mathematisches Verständnis gelegt. Ob ein Kind unter Dyskalkulie leidet, lässt sich mit Tests, die wie Klassenarbeiten aufgebaut sind und ausschließlich auf das Ergebnis zielen, nur unzureichend feststellen. Ein spezieller Test, der von der Humboldt-Universität in Berlin und dem Zentrum für Therapie der Rechenschwäche Berlin entwickelt wurde, baut auf der Methode des „lauten Denkens“ auf. Damit lassen sich falsche und umständliche Rechenwege ermitteln.

Therapie Dyskalkulie

Eine Rechenschwäche lässt sich weder durch Schule noch durch klassische Nachhilfestunden beheben. Keine Lösung sei jedenfalls das Wiederholen der Klasse, meinen Experten. Hilfe verspricht eine individuelle Lerntherapie über ein- bis zweieinhalb Jahre – neben einem speziellen Hausaufgabenprogramm, Elternbetreuung sowie Lehrer- und Arztgesprächen. In dieser Zeit lernen die Kinder nachträglich in kleinsten Schritten einen korrekten Mengen- und Zahlbegriff. Ein Symptomfragebogen ist im Internet unter www.arbeitskreis-lernforschung.de hinterlegt. Außerdem findet man auf diesen Seiten Adressen von Einrichtungen, die Eltern und Kindern weiterhelfen.

Update 2018 Interview mit: Dr. Michael Wehrmann

Was ist wichtig zum Thema Dyskalkulie?

Es muss eine qualitative Förderdiagnostik, Elternberatung und Lehrerberatung erfolgen. Wichtig ist eine qualifizierte Dyskalkulietherapie (dies ist keine normale Nachhilfe). Auch erscheint mir Lehrerfortbildung und damit einhergehend  die schulische Entlastung entscheidend.

Eine mehrjährige Ausbildung zum Dyskalkulietherapeuten, aufbauend auf einem akademischen Abschluss halte ich sogar für zwingend notwendig.

Wie ist der aktuelle Stand der Forschung bei Dyskalkulie?

Der Stand der Forschung ist uneinheitlich, denn eine klare Ursache wurde bislang nicht gefunden. Einig sind sich die Wissenschaftler aber, dass gezielte Unterstützung hilft. Meine Dissertation ist dabei ein Beitrag zur Diagnostik.

Wer bezahlt die Kosten bei Dyskalkulie?

Bezahlen tun es in der Regel die Eltern. In Deutschland ist laut OECD der Zusammenhang von Bildungsergebnis der Kinder und Geldbeutel der Eltern sehr hoch.

Ausnahme: ein Kinder- und Jugenpsychiater diagnostiziert eine „Seelische Behinderung“, dann kommen die Jugendämter für die Kosten einer Dyskalkulietherapie im Rahmen der „Wiedereingliederungshilfe“ KJHG §35a auf.

Wie viele Kinder betrifft Dyskalkulie?

Studien gehen von 5 bis 8 Prozent betroffener Grundschüler in Deutschland aus.

Gibt es einen Schnelltest für Dyskalkulie?

Einen Schnelltest anzubieten wäre meiner Meinung nach unseriös. Es bedarf eines gezielten Untersuchungsgespräches mit dem Schüler. Wir bieten eine Symptomliste an, um Anhaltspunkte zu sammeln. Dies ersetzt aber keine Diagnostik!

Wo kann ich weitere Hilfe bei Dyskalkulie finden?

Neben unserer Homepage finden sie qualifizierte Informationen auf den Seiten des Arbeitskreises Lernforschung (gemeinnützige GmbH), an der wir aktiv beteiligt sind.

2 Kommentare

  1. Guten Tag,

    dieser Artikel reißt das Thema Dyskalkulie gut an.

    Seit 16 Jahren leite ich eine Facheinrichtung für Lehrerfortbildung, Diagnostik und Lerntherapie bei Rechenschwäche. Wir haben eine Liste von Facheinrichtungen zusammengestellt, die den im Artikel genannten Kriterien genügen:
    https://www.zahlbegriff.de/rechenschwaeche.html
    Spe­zi­a­li­sier­te lern­the­ra­peu­ti­sche Fach­ein­rich­tun­gen für Dia­gno­stik und Be­hand­lung der Re­chen­schwä­che/​Dys­kal­ku­lie

    Ich könnte mir vorstellen, dass dies Anlaufstellen für hilfesuchenden Eltern sein können.

    Mit freundlichem Gruß
    Dr. Michael Wehrmann
    (Institut für Mathematisches Lernen Braunschweig)

  2. Vielen Dank für das Kompliment und die Bereitschaft diesen Beitrag mit einem Interview zu unterstützen.
    Das Interview über Dyskalkulie mit Dr. Michael Wehrmann wurde nach dem Beitrag geführt.

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